„So, we’ve had a global pandemic, the rise of fascism,
and a Titanic disaster – why not throw in a Russia
revolution to complete the early 20th century historical rerun?“
Diana Butler Bass via Twitter (hier)
In der obigen Aufzählung fehlt eigentlich nur noch eine (galoppierende) Inflation und wir hätten den Nachweis, dass sich die Geschichte zumindest reimt, wenn sie sich schon nicht wiederholt. Aber scheinbar versucht sich derzeit nur Deutschland an der Komplettierung der Geschichte:
Deutschland: https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2023/07/PD23_270_611.html
Die Inflationsrate steigt erneut von 6,1% im Mai auf 6,4% im Juni 2023, Allianz-Trade konstatiert sogar eine „gefühlte Inflation“ von 18% (hier und hier). Derweil zeigt Herr Krämer von der Commerzbank grafisch auf, dass Inflation mittlerweile in Deutschland nicht die Ausnahme, sondern die Regel ist (hier) – was auch daran liegen mag, dass die Renten in Deutschland seit 2010 um etwa 50% gestiegen sind (hier).
Derweil ist die Inflation im Euroraum weiter von 6,3% im Mai auf 5,5% im Juni 2023 gesunken.
Nachdem die EZB den Leitzins im Juni auf nunmehr 4,0% erhöhte, gibt es widerstreitende Zeichen, ob Ende Juli bereits die nächste Zinserhöhung anstehen könnte (pro hier, contra hier).
https://www.tristrategy.co.uk/home/bank-rates-hit-five-percent-tri
https://www.tristrategy.co.uk/home/uk-could-enter-a-recession-if-rates-hit-six-percent-tri
Angesichts einer gegenüber Mai (!) gleichbleibend hohen Inflationsrate von 8,7% in England, der deswegen erfolgten Zinserhöhung der Bank of England um gleich 0,5% auf 5,0% (s. auch hier) könnte eine Rezession drohen.
Die Schweiz erreicht als Musterschüler als erstes Land den üblichen Zielkorridor von 2% und weist im Juni eine Inflationsrate von 1,7% aus (nach 2,2% im Mai). Nicht nur die Schweizer Handelszeitung stellt sich deswegen die Frage, ob die SNB nun den Leitzins von bislang (auch eher mageren) 1,75% belässt oder die Zinsen noch erhöht.
Türkei: https://www.zeit.de/wirtschaft/2023-07/tuerkei-inflation-sinkt-experten-zweifeln
Die Inflationsrate in der Türkei soll geringfügig von 39% im Mai auf „nur noch“ 38,2% im Juni gesunken sein – aber Experten zweifeln diese Zahlen an. Die unter neuer Leitung (einer ex-Goldman-Bankerin) stehende türkische Nationalbank hat den Leitzins von 8,5% auf 15% fast verdoppelt! Zinswende, aber sowas von, kann man da eigentlich nur sagen. Herr Erdogan gießt aber gleich noch mal Öl ins Inflationsfeuer, indem er die Steuern auf Treibstoffe am Wochenende um 200% (!) erhöhte (hier).
USA: https://www.tagesschau.de/wirtschaft/finanzen/inflationsrate-usa-rueckgang-100.html
Auch in den USA fällt die Inflationsrate stetig – von 4,0% im Mai auf vergleichsweise moderate 3,0% im Juni 2023; dabei bleibt die Kerninflation mit 4,8% vergleichsweise hoch. Da sich der Arbeitsmarkt gleichwohl nicht abkühlt (hier), scheint die von der Fed erhoffte „weiche Landung“ nicht ausgeschlossen zu sein. Gleichwohl (oder deswegen) dürfte die Fed im Juli ihren im Juni unterbrochenen Kurs der Zinserhöhungen wieder aufnehmen und den Leitzins auf 5,25 bis 5,50% anheben.
Fazit: Deutschland verfolgt auch bei der Inflation – diesmal wohl eher ungewollt – einen „Sonderweg“. Während die Inflation in den meisten Ländern stagniert, wenn nicht sogar (signifikant) sinkt, steigt sie im Land der vormaligen Hyperinflation. Dies dürfte auch an – von interessierten Kreisen stets bestrittenem – Zweitrundeneffekt liegen. Dieser wird auch gerade durch „Papi Staat“ verstärkt – denn der Sektor, in dem die Zahl der Mitarbeiter in den letzten Jahren überproportional gewachsen ist, nämlich mit zwei Millionen (!) ist der Staat (hier und hier). Und die Inflation dürfte in Deutschland zumindest in naher Zukunft auch nicht wesentlich zurückgehen, wie Gabor Steingart treffend darstellt (hier). Die Frage ist, wie sich die EZB verhält, wenn die Inflation nur in Deutschland hochbleibt – wird sie dann so hartnäckig bleiben, wie die Bundesbank in den 70ern, worauf die FT hier verweist? Oder wird sie sich wieder auf Wachstum durch Lockerung der Geldpolitik fokussieren, wie in den 2010ern? Denn auch vor dem Hintergrund, dass das Eigenkapital der Bundesbank mittlerweile „solide“ negativ ist (hier, was bei der EZB nicht anders ist), dürfte die Versuchung groß sein, den Wert der ausstehenden Anleihen zu beeinflussen, um wieder ein positives EK ausweisen zu können. Dazu kommt, dass schon der jetzige „Rekordzinssatz“ der EZB auf eine tatsächliche Rekordverschuldung bei Verbrauchern (hier), wie auch bei Unternehmen (schon etwas älter hier) trifft. Von der Verschuldung der öffentlichen Hand mal ganz abgesehen (hier). Die derzeit laufende „Investitionsflucht“ (hier auch ein interessanter Begriff) dürfte zudem Geld weiter verteuern. Angesichts mehr als mauer Wachstumsaussichten für die deutsche Wirtschaft (hier), verdichten sich damit insgesamt die Anzeichen für eine Stagflation in Deutschland – allerdings auch nicht für eine Hyperinflation, wie vor 100 Jahren. Insofern versucht sich Deutschland zum Glück nicht an einer Wiederholung der Geschichte. Nichtsdestrotz steht das Land auch hier wieder am Scheideweg.