Guten Morgen,
Falls Sie heute schon meine Analyse des BVerfG-Urteils zur „Bundesnotbremse“ erwarten, muss ich Sie leider enttäuschen. Das Urteil ist ziemlich ausführlich und ich komme nur häppchenweise zum Lesen (hier ist das Urteil zum Selberlesen). Da ich also noch nichts zur „3. Gewalt“ sagen kann, beschäftige ich mich heute mal wieder mit der (selbst-proklamierten) „4. Gewalt“, also unserer Medienlandschaft. Nach zuletzt einigen positiven Eindrücken (hier) stehen einem bei den unten genannten Beispielen die Haare zu Berge – auch wenn die hier verlinkten Kommentatoren durchweg dem Friedrich’schen Imperativ (hier) sehr nahe kommen:
https://taz.de/Drachenlord-bekommt-zwei-Jahre-Haft/!5809040/
Stell dir vor, jemand macht von seinem Recht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch, Menschen rotten sich daraufhin zusammen und überschütten ihn nicht nur im Netz mit Häme, sondern schüchtern ihn auch mit Massenveranstaltungen vor der eigenen Haustür ein und dieser Jemand wehrt sich daraufhin physisch. Nachdem dieser Jemand VOR SEINEM HAUS (!) einen Mann mit einer Taschenlampe auf die Stirn geschlagen, einen anderen mit einem Backstein beworfen und einen Polizisten beleidigt hat, wird er – nachdem er vorher wegen ähnlicher Delikte zu einer Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt worden war – zu einer zweijährigen Freiheitsstrafe ohne Bewährung verurteilt. Und die StA legt wegen zu geringer Strafe Berufung ein (hier). Wow.
https://taz.de/Professorin-tritt-nach-trans-Eklat-ab/!5809038/
Stell dir vor, jemand weist als Wissenschaftler/in „das Konzept einer von der Anatomie unabhängigen „Genderidentität“ zurück und besteht darauf, trans Frauen als „Männer“ zu bezeichnen.“ (Wikipedia, hier). Daraufhin wird ihr nicht nur von Studenten, sondern auch von 600 (!) anderen Gelehrten in einem (offenen) Brief vorgeworfen, den akademischen Boden verlassen zu haben und transphob zu sein (hier). Daraufhin nehmen die Attacken gegenüber jemand solche Ausmaße an, dass jemand Angst um sein/ihre/div körperliche Unversehrtheit bekommt und tritt als Professor*in zurück.
Stellt dir vor, Jemand ist Chefredakteur einer großen deutschen Zeitschrift mit großen Buchstaben. Und dieser Jemand steigt mit Mitarbeiterinnen (einverständlich!) ins Bett – und gewährt dann diesen Mitarbeiterinnen scheinbar einen jobmässigen Aufstieg. Und die „andere Seite“ der Presselandschaft schreit „Machtmissbrauch“ jüngst vor dem Tag, an dem der Verlag der großen deutschen Zeitschrift mit großen Buchstaben einen Expansionsschritt in den USA unternimmt.
Fazit: Mich bekommt angesichts der obigen Meldungen mehr als nur ein „gewisses Gefühl des Unwohlseins“ (meine ersten Kommentare, die ich an dieser Stelle schrieb, habe ich schnell wieder als nicht öffentlichkeitskompatibel gelöscht). Mit Sicherheit ist keiner der oben geschilderten Fälle „schwarz/weiß“, sprich die „Jemanden“ sind nicht – im Zweifel noch nicht mal im strafrechtlichen Sinne – frei von „Schuld“. Insbesondere nicht Herr Reichelt. Aber war Oskar Schindler ohne Schuld? Und genau HIER beginnt die Aufgabe der 4. Gewalt – die Grautöne differenziert auszuloten, die „Täter“ nicht zu verurteilen, ohne sich mit ihnen gemein zu machen. Und gerade jetzt, wo wir einen unbestechlichen, neutralen und menschlichen Journalismus brauchen, um in dieser immer irrsinnigeren Welt noch so etwas wie Halt zu spüren, stirbt eine seiner besten Protagonistinnen, die Autorin des oben verlinkten grandiosen Spiegel-Kommentars zur causa Reichelt, Frau Bettina Gaus (s. die Nachrufe hier, hier, hier und hier). Es ist zum Heulen. Aber es gibt auch Zeichen der Hoffnung. Sascha Lobo, von dem ich sehr viel halte – schon seit der CIA (Insider wissen Bescheid) – wird immer besser und legt als Linker die Latte für wirklich Linke hoch (das würde man sich mal auch für die Rechten oder die Liberalen wünschen), wie das flammende Plädoyer für den Drachenlord klar macht.
Allerdings – und dass muss man auch den Kommentatoren oben jeweils ins Aufgabenheft schreiben – kommen sie zu spät. Das Kind ist in den Brunnen gefallen, der Drachenlord verurteilt, Frau Stock zurückgetreten und Herr Reichelt als Frauenschänder medial verurteilt. Aber das ist vielleicht das Problem, welches die „3.“ und „4.“ Gewalt gemeinsam haben – sie kommen immer zu spät. Dann kann aber die 4. Gewalt im Nachhinein zumindest das sichtbar machen, was jeweils „hinter“ den Fällen steht: In den Fällen Drachenlord / Stock nämlich die „Psychologie der Massen“, wie sie eindrücklich von Gustave Le Bon beschrieben wird – und tatsächlich verweist der oben beim Drachenlord verlinkte Artikel aus der taz auch auf „Masse und Macht“ von Elias Canetti! Denn diese „Massen“ bemächtigen sich derzeit – so hat es den Anschein – vieler Diskurse, sei es „Corona“, „Klimawandel“ oder Geschlechterthemen. Und wer nicht „konform“ mit der Masse geht, ist raus. Und der Fall Reichelt steht nur vordergründig nicht in diesem Zusammenhang – wenn man unterstellt, dass die „Aufdeckung“ der Affären von der NY-Times lediglich zur Schädigung eines potentiellen Konkurrenten geschah – was Frau Gauss im Spiegel gut herausarbeitet, sprich schnöder Mammon das Motiv war. Aber weitergehend sieht man, wie „gut“ es sich für „die Guten“ auch zum eigenen wirtschaftlichen Profit auf einer „Massen-Welle“ surfen lässt. Die Aufgabe der 4. Gewalt ist es, gerade diesen „Trend“ kritisch zu kommentieren – auch um eine sich ständig weiter parzellisierende Gesellschaft (s. bei mir hier) zu verhindern – und nicht selbst auf dieser Welle zu surfen. Rechts wie Links.
Spruch des Tages: „Nie haben die Massen nach Wahrheit gedürstet. Von den Tatsachen, die ihnen mißfallen, wenden sie sich ab und ziehen es vor, den Irrtum zu vergöttern, wenn er sie zu verführen vermag. Wer sie zu täuschen versteht, wird leicht ihr Herr, wer sie aufzuklären sucht, stets ihr Opfer.“ – Gustave Le Bon
Keep calm & carry on!
-tz