Morning Briefing – 24. November 2021 – Deutschland – was für eine Gesellschaft!?!

Guten Morgen,

Derzeit häufen sich wieder institutionelle Bauchnabelschauen zur deutschen Gesellschaft, Grund genug natürlich, sich einmal selber auf der Suche nach DER (?) deutschen Gesellschaft zu machen (die ich hier zuletzt betrachtet habe):

Sinus: https://www.sinus-institut.de/media-center/presse/sinus-milieus-2021

Die auch von mir immer wieder gerne genommene Sinus-Milieustudie kommt zu einem für mich schockierenden Ergebnis: „Das Ende der Bürgerlichen Mitte wie wir sie kannten“ und „Die größte sozio-kulturelle Dynamik geht aktuell von der Mitte der Gesellschaft aus. Die Lebens- und Wertewelten driften auseinander. Der statusoptimistische Teil modernisiert sich und blickt nach oben. Der harmonieorientierte, größere Teil sieht seinen Lebensstil und seine Prinzipien gesellschaftlich entwertet, zieht sich verbittert zurück und grenzt sich verstärkt nach unten und nach oben ab. Der gesellschaftliche Zusammenhalt nimmt ab, weil der Glaube an kontinuierliche Wohlstands- und Sicherheitsgewinne erodiert.“ Da hilft es in meinen Augen wenig, wenn das Sinus Institut dann meint, ein neues, die Entwicklung treibende, „adaptiv pragmatisches Milieu“ entdeckt zu haben, in dem „das Liberal-Intellektuelle und Sozialökologische zum Postmateriellen Leitmilieu“ verschmelzen würde. Mal abgesehen von der, sorry, schwurbeligen Bezeichnung stellt sich nämlich die Frage, ob dieses „Milieu“ die deutsche Gesellschaft so tragen wird, wie einst die deutsche Mittelschicht und der deutsche Mittelstand (s. dazu bei mir hier, s. aber auch den Spiegel, der von einer Stabilisierung der Mittelschicht ausgeht, hier).

Rheingold: https://www.rheingold-marktforschung.de/zukunftsstudie-2021-wie-deutsche-in-die-zukunft-blicken/

https://www.n-tv.de/wissen/Mehrheit-sieht-Deutschland-vor-Niedergang-article22864296.html

Die Furcht vor einer Spaltung ist bereits im Jetzt verankert. Die Hälfte der Bevölkerung fühlt sich in ihrer gegenwärtigen Lebenslage „im Stich gelassen“. 30 Prozent geben an, dass das Leben aktuell schon „schwierig und belastend“ ist. Gleichzeitig zeigt sich bei etwa einem Drittel (31 Prozent) entspannt-zurückgelehnter Wohlstandsgenuss.“ (Fett durch mich).

Mein Verdacht seit Jahren: In Deutschland leben 30-40% Menschen, die (meinen?,) ausgesorgt (zu) haben. Das dürften Rentner, aber auch Beamte und gutsituierte Angestellte nahe der Rente mit abbezahltem Häuschen, aber nicht unwesentlich auch Erben sein. Möglicherweise ist die Schnittmenge aus dem oben genannten (Mode-)Milieu der „adaptiv-pragmatischen“ (oder solchen, die sich so empfinden) und dem „Wohlstands-Genuss-Drittel“ gar nicht so klein.

KAS: https://www.kas.de/de/einzeltitel/-/content/politische-polarisierung-in-deutschland

https://www.merkur.de/politik/migration-armut-klima-polarisierung-deutschland-studie-spaltung-konrad-adenauer-stiftung-zr-91133725.html

https://www.zeit.de/politik/deutschland/2021-11/politische-polarisierung-zunahme-studie-gruene-afd-klimaschutz-zuwanderung

Tief gespalten sind die Deutschen demnach nicht. Wirklich gut ist es um den gesellschaftlichen Zusammenhalt aber auch nicht bestellt. Das hat nicht nur mit Gegensätzen zwischen Arm und Reich zu tun, sondern auch mit wachsenden politischen Differenzen. Vor allem zu den Themen Zuwanderung, Steuern, Sozialleistungen und Klimaschutz gingen die Meinungen zuletzt weiter auseinander als vor zwei Jahrzehnten. So gaben laut Studie rund 20 Prozent der befragten Wahlberechtigten an, sie wollten mit Klimaaktivisten persönlich nichts zu tun haben. Etwas mehr Menschen – nämlich 22 Prozent – sagten das über SUV-Fahrer. “ (Die Zeit über die Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung).

Jugend: https://www.shell.de/ueber-uns/shell-jugendstudie.html

https://jungedeutsche.de/

https://www.welt.de/politik/deutschland/article235217220/Jugend-in-Deutschland-Forscher-warnen-vor-ganz-grossem-Generationenkonflikt.html

Die mittlerweile institutionalisierte Jugendstudie von Shell kommt nur alle vier Jahre heraus, die letzte datiert vom November 2019. Die Studie kann also noch keine Änderungen nach Corona abbilden. Deswegen kommt die aktuelle Trendstudie „Jugend in Deutschland“ (Winter 2021/22) gerade Recht, um die Lücke zu füllen.

Die größten Sorgen der 1014 befragten Jugendlichen und jungen Erwachsenen nämlich sind nach dem Klimawandel (56 Prozent) der Zusammenbruch des Rentensystems (48 Prozent) und die fortschreitende Inflation (46 Prozent). Als wichtigste Aufgabe der Politik bezeichnet die Mehrzahl die Sicherung der Rente für die junge Generation. Erst dann folgen die Sicherung einer lebenswerten Zukunft und die Digitalisierung der Bildung.“ (Die Welt)

Minderheiten: https://www.nzz.ch/feuilleton/liberalismus-ade-oder-ueber-das-krux-der-minderheiten-ld.1561505

„Ich bin Minderheit, also bin ich“…

Fazit: Wenn der Berliner Tagesspiegel vor den „Drei ???“ oder „TKKG“ als „männliche Machtphantasien“ warnt (hier) oder Wolf Lotter auf Twitter warnen muss: „Niemand ist reaktionär, weil er Wetten, dass guckt, und erst recht niemand progressiv, weil er das Wettendassgucken anderer Leute für reaktionär hält.“, dann sind wir als Gesellschaft auf einem Problematisierungsniveau angelangt, dass nicht nur Gefahr läuft, die Prioritäten nicht mehr richtig zu setzen, sondern auch noch jede Kleinigkeit zu dämonisieren – und damit die Gesellschaft als Ganzes zu dekonstruieren.

Grundsätzlich entsteht Radikalisierung vielleicht auch dadurch, dass man zu lange nicht gehört wird. Wenn der Öl-Konzern Total seit 1971 den Klimawandel kommen sieht, aber bis in die 2000er hinein AKTIV versucht, diese Erkenntnis zu zerstreuen (s. dazu hier), dann werden Menschen, die sich damit beschäftigen und mit ihren Äußerungen nicht durchdringen, vielleicht zu „Querdenkern“. Wenn Frauen in der Schweiz erst 1971 das freie und allgemeine Wahlrecht erhalten (hier), der Stern 1976 erst einmal klar machen muss, dass Abtreibungen eine Sache ausschließlich von Frauen ist (hier), aber Frauen bis heute in vielen Positionen und Funktionen unterrepräsentiert sind, dann ist es nicht so fernliegend, dass sie ihre Rechte auch immer extremer einfordern. Der Druck staut sich, irgendwann explodiert der Kessel oder das Sicherheitsventil pfeift zumindest. Und dann geht es leider auch nicht mehr gerecht zu – ob Klimaschützer zu selbstgerecht sind oder Frauen die Fehler wiederholen, die sie Männern vorwerfen, mag alles sein, aber der Druck muss raus. Und die Jungen werden spätestens mir (Jahrgang 1969) keine Rente mehr zahlen, weil die „Boomer“ den Generationenvertrag einseitig schamlos ausnutzen (ich sage nur 10% Rentenerhöhung bis 2023, hier).

Wenn sich aber immer neue Minderheiten selbst „erfinden“ – entweder um sich damit gegen „die Mehrheit“ zu identifizieren oder um gegen sie anzukämpfen (SUV-Fahrer, Hörer von „Die Drei ???“ und „TKKG“), dann „parzellisiert“ sich eine Gesellschaft immer weiter – bis sie zerbricht. Da hilft dann auch kein Lagerfeuer mehr (erneut hier). Und angesichts der hier nur angerissenen aktuellen Studienergebnisse sehe ich den mittlerweile in diesem Land „erreichten“ Spaltungsstand mit sehr großer Sorge.

Spruch des Tages: „Der Coronavirus hat an der Gesellschaft nichts geändert: Die Intelligenten sind immer noch intelligent, die Dummen sind immer noch dumm. Man sieht nur beides noch deutlicher“ – unbekannt

Keep calm & carry on!

-tz 

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