Neulich hat der Journalist Christoph Lemmer unter dem Titel „Konstruktiver Journalismus – Die Selbsttötung der Informationsmedien“ recht pointiert Stellung zu den Aufgaben des Journalismus genommen und dem sog. „konstruktiven Journalismus“ eine Absage erteilt. Da ich selber in diesem Blog versuche, genau diesem journalistischen Stil zu folgen (s. hier) natürlich Grund genug, mich näher mit der Kritik Lemmers zu beschäftigen.
„Konstruktiver Journalismus“ ist nach Wikipedia „eine Strömung im Journalismus, die Prinzipien aus der positiven Psychologie in den Journalismus einbezieht. Konstruktiver Journalismus will über „positive Entwicklungen“ berichten, um ein „einseitiges negatives Weltbild“ bei den Lesern zu verhindern. Probleme sollen dabei nicht ignoriert, sondern um die „Diskussion möglicher Lösungsansätze“ erweitert werden.“
„Investigativer Journalismus“ dagegen besteht nach Wikipedia in der Aufdeckung von „in der Öffentlichkeit als skandalträchtig angesehene Vorgängen aus Politik oder Wirtschaft. Viele dieser Reporter erfüllen als sogenannte Vierte Gewalt im Staat eine wichtige Funktion bei der Kontrolle der Staatsorgane und Wirtschaftskonzerne in Demokratien (siehe auch Checks and Balances).“
Nach meinem Verständnis sagt Lemmers „konstruktiver Journalismus“, meint aber „Nudging“ oder schlicht „Besserwisserei“. Wer kennt sie nicht, diese Artikel, wie „[Zahl] Gründe, warum die [beliebiger Staat, Unternehmen, Person] die Rückkehr zu Weltspitze nicht schaffen wird!“ (Beispiel: Handelsblatt: „Die Lira-Krise ist kein Problem für die Weltwirtschaft“, s. meine Kommentierung dazu hier). Mit derartigen Überschriften („Clickbaits“) und Inhalten suggerieren Journalisten eine Scheinsicherheit, die es nicht geben kann – sie machen sich damit entgegen der immergültigen Regel von Hajo Friedrichs (hier) „mit einer Sache gemein“. Schlimmer ist noch, wenn sie dem (mehr oder weniger naiven) Leser auch noch suggerieren wollen, was er zu tun hat, damit er ein glückliches Leben führen kann (Beispiel gefällig?: Die Welt: „Fünf sehr einfache Wege, eine lange Beziehung zu verbessern“). Das ist schlechter Journalismus, keine Frage. Insofern gebe ich Herrn Lemmers Recht – erst recht, wenn es – wie scheinbar aktuell in Österreich (hier) oder auch in Deutschland (hier) – Bestrebungen zur Beschränkung des kritischen Journalismus gibt.
Reicht aber „investigativer“ Journalismus aus? Ich finde nein, habe ich doch selber im zarten Alter von 15 Jahren angefangen, den Spiegel zu lesen. Das Resultat lesen Sie gerade: Dieser Blog ist nämlich auch eine Art „therapeutisches Schreiben“ zur Abarbeitung der damals eingefangenen Traumata. Der Spiegel – als Hochaltar des investigativen Journalismus – hatte in mir nämlich eher ein zynisches Weltbild erzeugt.
Dies erkennend, wandte ich mich ab Mitte der 90er Jahre der Zeit – damals eine Ikone des konstruktiven Journalismus – zu. Damals war in meinen Augen das einzige Manko der Zeit, dass man selbst als Absolvent eines Deutsch-Leistungskurses ein Wörterbuch benötigte, um die Kommentare der Gräfin zu verstehen. Lang, lang ists her – wenn man sich Die Zeit von heute anschaut. Das aktuelle Paradebeispiel des konstruktiven Journalismus ist denn auch eher Brand Eins, wiewohl das Magazin nur auf Wirtschaft abonniert ist.
Und die Idee des „Konstruktivismus“ hat mich begeistert, seit ich 1982 im Fernsehen die Abwahl Helmut Schmidts als Bundeskanzler im Wege eines „konstruktiven Misstrauensvotums“ nach Art. 67 GG verfolgen durfte. Das konstruktive Misstrauensvotum fand nämlich seinen Eingang in das Grundgesetz wegen der Erfahrungen mit den im wahrsten Sinne des Wortes „destruktiven“ Folgen des ebensolchen Misstrauensvotums in der Weimarer Republik. Übertragen auf den Journalismus bedeutet dies, dass „investigativer“ Journalismus zwar besser ist, als gar keine Berichterstattung, aber die Gefahr besteht, dass die Leser zynisch werden. „Konstruktiver“ Journalismus bedeutet, auch LösungsVORSCHLÄGE zu unterbreiten und zu diskutieren, ohne in paternalistisches, besserwisserisches Verhalten, schon gar nicht verdeckter Art, wie es das „Nudging“ vorsieht, zu verfallen. Im besten Fall kann ich so als Journalist helfen, Diskussionen über das „normale Stammtischniveau“ zu heben.
Nach 35 Jahren bewusster Zeitungslektüre würde ich damit zusammenfassend sagen, dass der gute Journalist zumindest investigativ sein sollte, der bessere aber konstruktiv. Auf keinen Fall darf ein Journalist aber – wenn er sich in seiner Rolle als „4. Gewalt“ selber ernst nehmen will – „nudgen“ oder „besser wissen“. Diese Anforderungen zu erfüllen ist, gerade, wenn man damit auch noch Geld verdienen will oder muss, ganz gewiss ein heikler Drahtseilakt. Aber auf Dauer wird sich Journalismus als Metier nur halten, wenn dieser Drahtseilakt gelingt – ansonsten WIRD Journalismus tatsächlich selbstmörderisch, egal ob „konstruktiv“ oder „investigativ“.