Morning Briefing 30. Oktober 2020 – Journalismus-Special

Guten Morgen,

Ich muss derzeit auf meinen Blutdruck achten – sagt mein Arzt. Schwierig in solchen Zeiten, in denen einem als Blogger und Jurist im Stundentakt der Kamm schwillt. Nachdem ich mich zuletzt an der Politik abgearbeitet habe, heute mal wieder einige meiner Aufreger aus dem journalistischen Bereich:

Verhältnismäßigkeit„: https://www.tagesschau.de/inland/corona-regierungserklaerung-merkel-101.html

https://www.tagesschau.de/inland/corona-massnahmen-133.html

https://www.tagesspiegel.de/politik/streit-ueber-teil-lockdown-die-rede-vom-rechtsbruch-bedient-einen-falschen-mythos/26572948.html

https://www.focus.de/politik/deutschland/nach-merkel-gipfel-darf-sie-das-ueberhaupt-was-verfassungsrechtler-ueber-den-merkel-lockdown-denken_id_12596933.html

Frau Merkel bescheinigt sich in ihrem „Beschluss“ (hier, Ziff. 16) und in ihrer Regierungserklärung, dass die getroffenen Maßnahmen „geeignet, erforderlich, verhältnismäßig“ seien, also juristisch gesehen „verhältnismäßig im weiteren Sinne“. Wie schrieb ein Kommentator auf Linked-In dazu so schön: „Frau Merkel hat die ihr von einem Juristen erklärte Definition der Verhältnismäßigkeit schön aufgesagt. Aber leider die Subsumption vergessen.“

Und die Subsumption holen einige Leidmedien eifrig nach – wobei bei der ARD anzumerken ist, dass die Programmdirektorin die Tochter des Bundestagspräsidenten Schäuble und Ehefrau des CDU-Chefs von Baden-Württemberg, Herrn Strobl, ist (s. hier), der eher in Söder-Sphären kreist, wenn es um Einschränkungen von Grundrechten geht (hier). Schon dieser Umstand gibt dem – tatsächlich scheinbar von einem Juristen – verfassten ARD-Kommentar ein gewisses Geschmäckle. Zumal, wenn man die „Framing-Affäre“ der ARD kennt (hier).

Und für die Nicht-Juristen unter uns: Die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit einer Maßnahme ist in Deutschland eben nicht im Machtbereich der Exekutive, sondern der Judikative. Sprich, im Endeffekt entscheiden so etwas Gerichte. Die Betonung der Verhältnismäßigkeit durch Frau Merkel lässt aber psychologisch tief blicken.

Relotius IV: https://cdn.prod.www.spiegel.de/media/8f1fd57a-6c4a-4506-b806-f4416b567386/Abschlussbericht_Der_Todesschuss.pdf

https://www.welt.de/kultur/medien/article218945686/Spiegel-gesteht-Fehler-bei-Titelgeschichte-zu-Bad-Kleinen-ein.html

„Relotius“ (s. zu den vorherigen Relotien hier) heißt diesmal „Leyendecker“  – und er hat vor 27 Jahren ziemlichen Mist gebaut mit erheblichen Konsequenzen für viele Menschen. Man muss dem Spiegel zu Gute halten, dass er mit sich selber ins Gericht geht – und dabei nicht gerade zimperlich ist. Aber, wie sagte ein Kommentator so schön: “ Vom Sturmgeschütz der Demokratie zum Volkserzieher“. Trifft die aktuelle „Berichterstattung“ des Spiegel gut. Das hat alles etwas besserwisserisches, keine Demut, keine Fragen – viel Meinung für ziemlich wenig Ahnung. Sprich, der Spiegel zieht die letztendliche Konsequenz aus seinen eigenen Fehlern nicht.

Wer sich für die „Story“ um Rüdiger Grams interessiert, dem sei wärmstens Wolfgang Schorlaus „Die blaue Liste“ empfohlen. An Hand der von ihm offen gelegten Quellenangaben wird deutlich, dass sich das Geschehen in Bad Kleinen gar nicht so abgespielt haben kann. Wenn ein Romanautor authentischer ist, als die Journaille, dann läuft was richtig schief….

Corona: https://www.heise.de/tp/features/Elementare-Defizite-der-Berichterstattung-4926002.html

https://www.heise.de/tp/features/Wenn-schon-die-Fakten-nicht-stimmen-4931119.html

„Desinfektionsjournalismus“ ist ja schon ne geniale Wortschöpfung…

Fazit: Den Medien ist bereits wissenschaftlich bescheinigt worden, dass sie in der Finanzkrise eine eher unglückliche Rolle gespielt haben (hier), das Vertrauen in den Wirtschaftsjournalismus hat nach der Finanz- und Euro-Krise ziemlich gelitten (hier). Erst recht nach der Flüchtlingskrise ist das Vertrauen in die Medien auf neue Tiefpunkte gesunken – wohl nicht ganz zu Unrecht, wenn man erneut der politisch zumindest mal in diese Richtung völlig unverdächtigen Otto Brenner Stiftung folgt („Der journalistische Qualitätsgrundsatz, aus neutraler  Sicht sachlich zu berichten, wird in rund der Hälfte der Berichterstattungen nicht durchgehalten.“, s. hier, S. 134, und weiter (S. 135): „Bis zum Spätherbst 2015 greift kaum ein Kommentar die  Sorgen, Ängste und auch Widerstände eines wachsenden Teils der Bevölkerung auf.  Wenn doch, dann in belehrendem oder (gegenüber ostdeutschen Regionen) auch verächtlichem Ton. Kaum ein Kommentar während der sogenannten Hochphase (August und September) versuchte eine Differenzierung zwischen Rechtsradikalen, politisch Verunsicherten und besorgten, sich ausgegrenzt fühlenden Bürgern. So dienten die Kommentare grosso modo nicht dem Ziel, verschiedene Grundhaltungen zu erörtern, sondern dem, der eigenen Überzeugung  bzw. der regierungspolitischen Sicht Nachdruck zu verleihen.“)

Gerade die letzten Sätze dürften sich in einer späteren Untersuchung der journalistischen Arbeit in der Corona-Krise 1:1 wiederfinden. Und dann werden wir auch die Korrekturen zu den Berichten über die Energiewende nach Fukujima erhalten. Aber dann ist das ja alles „verjährt“ und wir müssen „verzeihen“ (Jens Spahn). Es gibt aber – das muss man der Fairness halber hinzufügen – Lichtblicke: Herr Lobo entwickelt sich so langsam zu einem der ganz großen mit seiner kritischen (Selbst-)Betrachtung zum islamistischen Terror (hier). Vielleiht gibt es ja doch Licht in dieser Dunkelheit?

Historisch: 1908: Die Daily-Telegraph-Affäre beschäftigt die britische und deutsche Öffentlichkeit. Abgedruckte Äußerungen von Kaiser Wilhelm II. lösen Empörung und in Deutschland eine Staatskrise aus. Reichskanzler von Bülow bietet seinen Rücktritt an. Teile der Öffentlichkeit fordern die Abdankung des Kaisers. (Aus: https://de.wikipedia.org/wiki/30._Oktober)

Keep calm and carry on!

-tz 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert