Morning Briefing – 27. Mai 2021 – Deutschland am Scheideweg…

Guten Morgen,

Wenn auch Corona sich wahrscheinlich nie so ganz verabschieden wird (hier), so kann man doch zumindest jetzt, einen Monat nach In-Kraft-Treten der „Bundesnotbremse“ (hier) und angesichts einer bundesweiten Inzidenz von 41 (hier; zum Vergleich: am 27. April 2021 lag die Inzidenz bei 167,6, hier), konstatieren, dass die dritte Welle der Pandemie gebrochen ist. So weit, so gut. Oder auch nicht, denn gleichwohl plant die Bundesregierung die „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ durch den Bundestag erneut – und gleich wieder für drei Monate verlängern zu lassen (hier). Angesichts der Freiräume, die das BVerfG mittlerweile lässt, dürfte diese Regelung wohl sogar als „legal“ durchgewunken werden, politisch reiht sie sich ein in die endlose Kette von Bankrotterklärungen dieses deutschen Parlaments. Zu der Befürchtung, dass in dieser Zeit die erforderliche Vorbereitung auf eine mögliche vierte Welle urlaubs- und wahlkampfbedingt wieder auf der Strecke bleiben wird, gesellt sich aber auch der dumpfe Gedanke, dass „unsere“ Regierung vielleicht auch auf dem „wirtschaftlichen Auge“ erblindet ist. Denn die deutsche Wirtschaft steht bereits am Scheideweg – nicht nur für den Rest des Jahres. Warum? Schauen Sie selber:

BIP-Wachstum: https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/bruttoinlandsprodukt-deutsche-wirtschaft-zu-jahresbeginn-um-1-8-prozent-geschrumpft/27219270.html

Aha, im ersten Quartal ist die deutsche Wirtschaft um 1,8% geschrumpft. Und auch das zweite Quartal, was jetzt zu knapp zwei Dritteln rum ist, dürfte nicht gerade Bocksprünge des Wachstums vollführt haben. Wird spannend, ob das von den fünf Weisen vorhergesagte Wachstum von 3% im Gesamtjahr (s. dazu hier) dann im zweiten Halbjahr 2021 noch zu erreichen ist. Das dürfte auch vom Nachholbedürfnis einerseits und der Kontrolle über eine vierte Welle ab Herbst andererseits abhängen. Sprich, alleine schon die Drohung mit einem erneuten Lockdown im Herbst dürfte dazu führen, dass das BIP in D auch in 2021 nicht wächst.

Corona-Hilfen: https://www.welt.de/wirtschaft/article231306813/Corona-Sonderfonds-WSF-Hilfsmilliarden-des-Staates-liegen-ungenutzt-herum.html

https://www.welt.de/politik/deutschland/article231312311/Coronabetrueger-FDP-kritisiert-langsame-Aufklaerung.html

Die Bilanz der durch die Politik gewährten Corona-Hilfen ist – gelinde gesagt – durchwachsen, wie nicht nur die Snippets oben zeigen, sondern auch die Bewertung, dass die Absenkung des Umsatzsteuersatzes, die den Bundesbürger Euro 20 Mrd. gekostet hat, mehr oder minder wirkungslos verpufft ist (hier). 

Industrie: https://www.welt.de/wirtschaft/article231072903/Maschinenbau-Der-truegerische-Boom-der-deutschen-Industrie.html

Zugpferd jeglichen Aufschwungs wird das produzierende Gewerbe sein – dieses Zugpferd kommt aber gerade nur an geringe Hafermengen, um mal im Bild zu bleiben. Sprich, Lieferengpässe, nicht nur bei Chips (hier), drohen bereits kurzfristig den Aufschwung zumindest abzubremsen.

Insolvenzen: https://www.beissenhirtz.com/de/mai-2021-unternehmensinsolvenzen-februar-2021-218-und-kein-aber-oder-doch/

https://www.welt.de/wirtschaft/article231266819/Unternehmensinsolvenzen-Warum-es-trotz-Corona-weniger-Pleiten-gibt.html

Ach ja, man mag es glauben, Insolvenz gibt es auch – und sie werden zunehmen. Ob es gleich 25.000 mehr sein werden, wie Creditreform und das Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) konstatieren, mag mal dahingestellt sein. Aber das der Rückgang der Unternehmensinsolvenzen angesichts des Auslaufens der Aussetzung der Antragspflicht weitergeht, dürfte sehr unwahrscheinlich sein. Die Frage ist halt, wie viele Wellen in welchem Abstand nun auf die deutsche Wirtschaft zurollen, wie mit ihnen umgegangen wird und wie sie die wirtschaftliche Entwicklung beeinflussen.

Fazit: Klappern gehört bekanntlich zum Handwerk, sprich die deutsche Industrie wird sich schon deswegen frühzeitig und stark über Lieferengpässe beschweren, um das nun allgemein bekannte Präventionsparadox zu erzwingen. Und ja, man kann in jeder Euphorie-Suppe auch noch ein Insolvenz-Haar finden. Geschenkt. Aber schon vor Corona war die deutsche Wirtschaft eher nicht in einem Aufschwung begriffen, auch aus Gründen des Strukturwandels. Und dieser Strukturwandel wird nach Corona weitergehen. Langfristig weht also schon mal ein starker „Wind of Change“. Aber auch kurzfristig, sprich bis Jahresende, besteht ein nicht unerhebliches Risiko, dass bei unbeeinflusstem Geschehensablauf das BIP eine Null oder gar ein Minus für 2021 ausweist. Keine gute Ausgangsposition für die erforderliche Aufholjagd. Und weil ja spätestens seit Ludwig Erhard die Hälfte der Wirtschaft Psychologie ist, dürften auch die Vorwirkungen (in Form von freudiger oder banger Erwartung)  von längerfristigen Maßnahme-Paketen eine nicht unerhebliche Rolle spielen. Im Gegensatz zu „Peters (Altmaier) Märchenstunde“ hat der ehemalige Telekom-Vorstand und FDP-MdB Thomas Sattelberger mal vier zentrale Themenfelder aufgerissen, in denen akuter Handlungsbedarf besteht: Industriepolitik, Digitalisierung, Sozialsysteme und Bildung (hier). Anstatt in die Sommerpause zu gehen, sollte sich der Bundestag mit geeigneten Maßnahmen in diesen vier Themenfeldern beschäftigen – auch um einer vierten Corona-Welle nicht mehr so hilflos zu begegnen, wie der dritten.

Spruch des Tages: „Denk ich an Deutschland in der Nacht / Dann bin ich um den Schlaf gebracht“ – Heinrich Heine

Keep calm and carry on!

-tz 

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