Das Buch „Warnings“ der ehemaligen Sicherheitsberater der US-Regierung, Richard A. Clarke und R.P. Eddy, wurde mir von einem treuen Leser dieses Blogs empfohlen. Danke, Herr C.! Es erwies sich als so fesselnd, dass ich es an einem Wochende durchgelesen habe – eine klare Lesempfehlung!
In der griechischen Myhtologie galt Cassandra laut Wikipedia „als tragische Heldin, die immer das Unheil voraussah, aber niemals Gehör fand. Derart ungehörte Warnungen werden als Kassandrarufe bezeichnet.“ Die beiden Autoren des Buches identifizieren denn auch zahlreiche moderne Cassandras, wobei sie im ersten Teil („Missed Warnings“) zunächst Personen darstellen, die in der Vergangenheit vor dann tatsächlich eingetretenen Ereignissen gewarnt haben, aber eben nicht gehört wurden. Dazu gehört Meredith Whitney, die mit einer Aufsehen erregenden Analyse am 31. Oktober 2007 die Citigroup-Aktien auf Talfahrt schickte, weil sie die Bank in Folge von riskanten (Subprime-)Geschäften für unterfinanziert ansah. Sie gilt heute als eine der ersten, die die heraufziehende Finanzkrise in 2007/2008 erkannte – Konsequenzen, über die Talfahrt der Citigroup-Aktie hinaus wurden aber nicht gezogen. Zu den Cassandras gehört aber auch der Wirtschaftsprüfer, Harry Markopolos, der die SEC neun (!) Jahre erfolglos davor warnte, dass Bernie Madoff eines der größten Schneeballsysteme der Welt betrieb – bevor das System dann wegen der Finanzkrise 2008 zusammenbrach. Anläßlich der aktuellen Stürme „Harvey“ und „Irma“ ist auch das Kapitel zur Warnung vor dem damaligen Wirbelsturm „Katrina“ wieder brandaktuell.
Aus der Auswertung der dargestellten Fälle entwickeln die Autoren dann den „Cassandra Koeffizienten“, um aus der Vielzahl der täglich umherschwirrenden Informationen und Warnungen diejeningen Risiken herauszufiltern, aus denen sich zukünftig Katastrophen entwickeln könnten, die aber derzeit nicht adäquat adressiert werden. Im Endeffekt geht es Ihnen damit um Kriterien für eine taugliche Risikoprognose, genauer gesagt, wie man einen tauglichen Risikoprognostiker herauszukristallisieren (und nebenher die üblichen „Doom-Sayer“ herausfiltern) kann.
Dazu haben Sie ein aus „Komponenten“ und „Merkmalen“ bestehendes Koordinatensystem entwickelt, in dem sie 24 Bedingungen zueinander in Relation setzen (s. hier für eine graphische Darstellung). Beispielhaft seien hier zunächst nur die Charakteristika einer Cassandra genannt: Sie ist ein anerkannter Experte auf dem Gebiet, auf dem sie die Warnung abgibt, sie hat eine eher konfrontierende Persönlichkeit (die dazu führt, dass potentielle Adressaten der Warnung sich eher an der Persönlichkeit des Warnenden, denn an der Warnung, abarbeiten), weist eine unabhängige, aber fakten-basierte, skeptische Denkweise auf, die mit einem außerordentlich hohen Verantwortungsbewußtsein und hoher Besorgtheit in Bezug auf die Warnung einhergeht. Auf Grund der letztgenannten Charaktereigenschaften fühlen sich die Experten dann auch als Warner berufen.
im zweiten (und wahrlich erschreckenden) Teil des Buches („Current Warnings“) gehen die Autoren dann auf aktuell relevante Warnungen ein, die nicht gehört werden: Hervorzuheben ist hier das Kapitel über den Anstieg der Meeresspiegel im Zuge des Klimawandels, in dem die Arbeiten von Dr. James Hansen analysiert werden (s. dazu auch hier meine Vortrags-Rezension zu einem Vortrag von Herrn Prof. Dr. Schellnhuber aus dem Jahre 2015). Angesichts der Haltung des aktuellen US-Präsidenten, der eher nicht an den Klimawandel zu glauben scheint, braucht man nicht weiter auszuführen, wie die Warnungen dieses Experten ungehört verhallen. Die in den Kapitel über Artificial Intelligence und „The Internet of Everything“ enthaltenen Warnungen vor den Risiken der neuen, schönen Cyberwelt werden ja sogar von Leuten wie Elon Musk aufgenommen. Die Frage ist aber, ob der Prozess der Digitalisierung nicht schon so weit fortgeschritten ist, dass der Prozess unumkehrbar ist (ähnlich wie beim Klimawandel).
Mit diesem (qualitativen) Ansatz gehen die Autoren einen anderen Weg, als z.B. Nate Silver („The Signal and the Noise“, Rezension folgt), der einen quantitativen Ansatz verfolgt, also eher mit Probablitätsrechnungen arbeitet, um aussagekräftige Prognosen zu erstellen.
Man kann getrost davon ausgehen, dass gerade der Autor Clarke mit dem Buch auch seine eigene Cassandra-Historie aufgearbeitet hat. Er hatte sich nämlich gegen den Einmarsch in den Irak und Afghanistan gewandt und die Folgen dieser Kriege vorhergesagt. Seine Warnungen wurden ignoriert. Die Folgen sind bekannt. Diese eigene Betroffenheit führt aber nicht zu einer Verbitterung, sondern hat wahrscheinlich zu der außerordentlichen argumentativen Stringenz des Buches bei einer guten Lesbarkeit geführt.
Es bleibt zu hoffen (und das tun die Autoren selber!), dass etliche der aktuellen Cassandra-Rufe nicht nur ungehört verhallen, sondern die entsprechenden Prognosen gar nicht eintreten. Auch wenn die im zweiten Teil des Buches enthaltenen Prognosen wahrlich existentielle Fragen betreffen, so wäre eine Analyse der aktuellen wirtschaftspolitischen Ereignisse – und gerade eine Prognose über den Ausgang des laufenden Experiments der Notenbanken – wünschenswert gewesen. Aber, wer weiß, vielleicht gibt es ja noch ein „Sequel“. Zu wünschen wäre es – hätte ich damit gleich wieder meine Wochenendlektüre gesichert.
Das Buch ist im Jahre 2017 bislang nur in englischer Sprache erschienen. Es ist uneingeschränkt als Lektüre zu empfehlen – und sollte für politische wie wirtschaftliche „Entscheider“ Pflichtlektüre sein, um – jenseits der Wahlkampfparolen – ähnlich wie der im Buch ebenfalls dargestellte Winston Churchill (der die Folgen seiner Cassandra-Rufe bekanntlich selber ausbaden durfte), langfristig Risiken zumindest zu minimieren.
Ein Gedanke zu „Rezension: „Warnings: Finding Cassandras to Stop Catastrophes““