Als ich am 29. Dezember schön gechilled auf der Couch lag, ritt mich doch tatsächlich der Teufel (Esel und Eis, Sie wissen schon) und ich habe tatsächlich durch die Newsseiten „gezapped“. Prompt stieß ich auf den wenig erfreulichen Kommentar von Herrn Fleischhauer zum Stand der Impfungen gegen Corona (hier). Oha! Also weitergelesen und – oh Wunder – tatsächlich hatte Israel zu diesem Zeitpunkt nicht nur bereits über 500.000 Menschen (erst-) geimpft, sondern auch angekündigt, dass im März 2021 60% der Bevölkerung geimpft seien sollen (hier). Zu diesem Zeitpunkt waren in Deutschland „bereits fast“ 42.000 Menschen geimpft (so, völlig ironiefrei die Tagesschau (hier).
Das war es dann mit dem Chillen – und seitdem komme ich aus dem Recherchieren nicht mehr heraus. Denn, um es klar zu sagen, es herrscht Pleiten, Pech und Pannen, bei der Beschaffung, der Impfstrategie wie auch letztlich im Impfprozess selber, wie der nachfolgende Überblick zeigt.
Demnach hat Deutschland sich für 2021 bislang 136,3 Mio. Impfstoffdosen von Moderna und Biontech sichern können. Damit könnten, wenn der Impfstoff nicht gestreckt würde, also 68,15 Mio. Einwohner bis Ende 2021 geimpft werden. Sollte also reichen (s. auch sogleich unten) – allerdings erst am Jahresende. Und es ist absehbar, dass die Verfügbarkeit im zweiten Halbjahr wesentlich höher liegen dürfte, als im ersten.
Impfstrategie: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/C/Coronavirus/Verordnungen/CoronaImpfV_-_De_Buette.pdf
https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/Impfen/ImpfungenAZ/COVID-19/Positionspapier.html
„Um die Corona-Pandemie zu stoppen, müssten nach Schätzung von Experten etwa 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung geimpft werden; das wären in Deutschland bis zu 58 Millionen Menschen.“ (Manager Magazin).
Die BReg hat aus den von der StIKo empfohlenen fünf Risikogruppen erst einmal drei gemacht und folgende Impfreihenfolge festgelegt:
Höchste Priorität
- Über 80-Jährige
- Personen, die in stationären Einrichtungen für ältere oder pflegebedürftige Menschen behandelt, betreut oder gepflegt werden oder tätig sind
- Pflegekräfte in ambulanten Pflegediensten
- Beschäftigte in medizinischen Einrichtungen mit hohem Expositionsrisiko wie Intensivstationen, Notaufnahmen, Rettungsdienste, als Leistungserbringer der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung, SARS-CoV-2-Impfzentren und in Bereichen mit infektionsrelevanten Tätigkeiten
- Beschäftigte in medizinischen Einrichtungen, die Menschen mit einem hohen Risiko behandeln, betreuen oder pflegen (v.a. Onkologie und Transplantationsmedizin)
Hohe Priorität
- Über 70-Jährige
- Personen mit Trisomie 21, mit Demenz oder geistiger Behinderung, nach einer Organtransplantation
- Eine enge Kontaktpersonen von pflegebedürftigen über 70-Jährigen und von Personen mit Trisomie 21, von Personen mit einer Demenz oder mit einer geistigen Behinderung und von Personen mit einer Organtransplantation
- Eine enge Kontaktperson von Schwangeren
- Personen, die in stationären Einrichtungen für geistig behinderter Menschen tätig sind oder im Rahmen ambulanter Pflegedienste regelmäßig geistig behinderte Menschen behandeln, betreuen oder pflegen
- Personen, die in Bereichen medizinischer Einrichtungen mit einem hohen oder erhöhten Expositionsrisiko in Bezug auf das Coronavirus SARS-CoV-2 tätig sind, insbesondere Ärzte und Ärztinnen und sonstiges Personal mit regelmäßigem Patient:innenkontakt, Personal der Blut- und Plasmaspendedienste und in SARS-CoV-2-Testzentren
- Polizei- und Ordnungskräfte, die im Dienst, etwa bei Demonstrationen, einem hohen Infektionsrisiko ausgesetzt sind
- Personen im öffentlichen Gesundheitsdienst und in relevanten Positionen der Krankenhausinfrastruktur
- Personen, die in Flüchtlings- und Obdachloseneinrichtungen leben oder tätig sind
Erhöhte Priorität
- Über 60-Jährige
- Personen mit folgenden Krankheiten: Adipositas, chron. Nierenerkrankung, chron. Lebererkrankung, Immundefizienz oder HIV-Infektion, Diabetes mellitus, div. Herzerkrankungen, Schlaganfall, Krebs, COPD oder Asthma, Autoimmunerkrankungen und Rheuma
- Beschäftigte in medizinischen Einrichtungen mit niedrigen Expositionsrisiko (Labore) und ohne Betreuung von Patient:innen mit Verdacht auf Infektionskrankheiten
- Personen in relevanter Position in Regierungen, Verwaltungen und den Verfassungsorganen, in der Bundeswehr, bei der Polizei, Feuerwehr, Katastrophenschutz und THW, Justiz
- Personen in relevanter Position in Unternehmen der kritischen Infrastruktur, Personen, die im Lebensmitteleinzelhandel, in Apotheken und Pharmawirtschaft, öffentliche Versorgung und Entsorgung, Ernährungswirtschaft, Transportwesen, Informationstechnik und Telekommunikation tätig sind
- Erzieherinnen und Erzieher, Lehrerinnen und Lehrer
- Personen mit prekären Arbeits- oder Lebensbedingungen
Nur, um mal die Größenordnung anzudeuten, über die wir in diesen drei Gruppen diskutieren: In Deutschland lebten laut Destatis Ende 2019 4,1 Mio. pflegebedürftige Menschen, davon 0,82 Mio. in Pflegeheimen (hier, Danke, Schatzi). Dazu kommen über 3,6 Mio. Beschäftigte im Gesundheitsbereich mit direktem Patientenkontakt (hier). Allein diese „Untergruppe“ in den vorgenannten Risikogruppen macht also rund 7,7 Mio. Menschen aus. Da sind also noch keine Lehrer, Polizisten oder andere „relevante Berufsgruppen“ erfasst.
Anfang Dezember kündigte Herr Spahn im DLF (hier) an: „Unser Ziel ist, dass bereits im Januar, Stand heute mit dem, was wir erwarten dürfen, die ersten Risikogruppen geimpft sind und die ersten, die im Pflegebereich beschäftigt sind.“ Angesichts des überschaubaren Verfügbarkeit des Serums „präzisierte“ Herr Spahn dieses Aussage Anfang Januar. Nunmehr sollen „…nach diesem Plan jede Woche knapp 670.000 weitere Dosen bis Ende der siebten Kalenderwoche (16. Februar) ausgeliefert [werden]. Das wären für den gesamten Zeitraum 5,35 Millionen Dosen. Bis spätestens Mitte Februar, in den meisten Bundesländern bis Ende Januar, werde es gelingen, ein wichtiges Etappenziel zu erreichen: den Impfschutz der besonders vulnerablen Gruppe der Heimbewohner und des Pflegepersonals.“ (hier)
Nach dem derzeitigen Erkenntnisstand reichen 5,35 Mio. Dosen für 2,675 Mio. Menschen (ausgehend davon, dass zwei Impfungen für die Immunität erforderlich sind). Je nach Definition (Heimbewohner? Pflegebedürftige Menschen insgesamt? Pflegepersonal?) dürfte Herr Spahn dieses Ziel zwar im Februar als erreicht ansehen. Aber selbst das wäre gleichwohl nur der berüchtigte „Tropfen“, wie folgende Überlegungen zeigen:
Wenn bis Ende Februar tatsächlich 2,675 Mio. in Deutschland lebende Menschen geimpft werden, würden noch rund 55 Mio. verbleiben, die noch geimpft werden müssten, um die Pandemie in Deutschland zu stoppen. Selbst wenn man für die Zeit nach dem 16. Februar 2021 sofort eine Erhöhung der geimpften Personen um 5 Mio. pro Monat (also 10 Mio. Dosen!!) annehmen würde, benötigte man für die Impfung dieser restlichen 55 Mio. also 11 Monate – mindestens also mal bis Jahresende. Würde man diese 55 Mio. bis Ende Juli 2020 impfen wollen (Herr Spahn spricht von einem „Impfangebot“ bis Ende des 2. Quartals (hier)), benötigte man also bis dahin 110 Mio. Dosen und müsste bis dahin pro Monat also rund 9,16 Mio. in Deutschland lebende Personen impfen. Na, denn man tau.
„In Berlin sollten laut ursprünglicher Planung täglich 20.000 Menschen geimpft werden.“ (Tagesspiegel). Muss ich jetzt noch berechnen, wie lange es dann (selbst bei 7-Tage-Betrieb) dauern würde, bis wiederum 60% bis 70% der Berliner Bevölkerung (bei rund 3,4 Mio. also mindestens 2.04 Mio.) gegen Corona geimpft sind (immer dran denken, es braucht ZWEI Impfungen)? 204 Tage. Dann wären wir so im August 2021 durch – wenn denn stetig genug Impfdosen ankommen und diese nicht durch falsche Prozesse unbrauchbar gemacht werden…
Fazit: Der Spiegel (hier) arbeitet mit seinen Fragen an Herrn Spahn die Schwachstellen bei der Beschaffung des Impfstoffes deutlich heraus: „Hätten Deutschland oder die EU frühzeitig deutlich mehr Impfstoff geordert, hätte man dann mit den Unternehmen nicht auch über einen noch massiveren geförderten Ausbau der Produktionsstätten reden können?“ Oder: „Warum hat man nicht von jedem einzelnen Impfstoffkandidaten von Beginn an so viel bestellt, dass dieser im Zweifel auch als einzige Option für alle genügen würde?“ bringen es auf den Punkt. Vielleicht gibt es sogar gute Antworten auf diese Fragen – aber dann hätte Herr Spahn diese Antworten pro-aktiv liefern müssen. Und: Das es anders geht, wird derzeit täglich durch die Impfungen in Israel und den USA nachgewiesen (aktueller Stand jeweils hier, am 5. Januar 2021 hatte Israel bereits über 17 Mio. Dosen verimpft!!!!!).
In der Diskussion über die Gründe der Verzögerung wird zwar mit dem Finger auf Frankreich gezeigt, das Vorbehalte gegen den deutschen Impfstoff geäußert haben soll (was Frankreich bestreitet). Allerdings kristallisiert sich als Grund immer mehr der (übliche) Streit ums liebe Geld heraus: Während Israel wohl bereit war, für eine Dosis von Biontech 30 USD zu bezahlen, wollte die EU dafür nur Euro 18 bezahlen (hier, s. auch hier und hier). „Geliefert, wie bestellt“, kann man da nur zynisch sagen. Und das wird jetzt kosten – Menschenleben, Lebenszeit, wirtschaftlich Prosperität und Geld, denn angesichts des sich jetzt entwickelnden öffentlichen Drucks wird die EU (und wenn nicht die, dann Deutschland) mit ziemlicher Sicherheit jeden Preise zahlen, um sofort und schnell an Impfdosen zu kommen – und das dürfte die EU teurer zu stehen kommen, als USD 30.
Aber selbst, wenn die Impfdosen in Deutschland ankommen, dürften sich die Landes- und Kommunalpolitiker wohl noch einmal mit der Prozessgestaltung bei der Impfung selbst auseinandersetzen müssen – nicht nur, um die angesprochene versehentliche Impfstoffvernichtung bei überschaubaren Einzelfällen zu belassen.
Die Schnelligkeit der „Durchimpfung“ der Bevölkerung dürfte die alles entscheidende politische Frage des Jahres 2021 sein. Wenn die Regierung(en) hier nicht liefern, aber im Herbst 2021 wieder einen harten Lockdown verkünden müssen, weil die Infektionszahlen zu hoch sind, dürfte selbst diese duldsame Bevölkerung „not amused“ sein. Denn auch für die wirtschaftliche Erholung nach der Pandemie – und damit die Arbeitsplatzsicherheit für viele Deutsche – ist eine schnelle Durchimpfung entscheidend.
Hinweis: dieser Post erschien zunächst als Morning Briefings am 7. Januar 2021)