Morning Briefing – 17. August 2021 – Wahlkampf 2020 – Amerikanisierung?

Guten Morgen,

Sechs Wochen vor Bundestagswahlen mit entscheidender Weichenstellung für Deutschland im laufenden Jahrzehnt. Und neben Corona beherrschten bis zum Hochwasser (hier) und dem sich abzeichnenden Afghanistan-Debakel (hier) Sticheleien über Unzulänglichkeiten im Lebenslauf (hier und hier), Lachen im Katastrophengebiet (hier), geschmacklose Wahlvideos (hier) oder eine Freiheitliche Partei, von denen man in eben diesen Corona-Zeiten NICHTS hört (deswegen auch kein Link) die Schlagzeilen über Parteien und Personen. Ich bin darüber ziemlich gefrustet, zumal wir Deutschen noch 2016 mit dem Finger auf die US-Präsidentschaftswahlen gezeigt haben. Dazu mal einige Gedanken:

Parteispenden: https://www.spiegel.de/politik/deutschland/gruene-erhalten-rekordspende-von-bitcoin-millionaer-a-a8952711-34fe-4358-aec1-2e96e5ed0bc9

https://www.tagesspiegel.de/berlin/staatsrechtler-battis-sieht-zahlungen-kritisch-immobilienunternehmer-groener-spendete-800-000-euro-an-die-berliner-cdu/26771174.html

„Grüne erhalten Rekordspende von Bitcoin-Millionär“ oder „Immobilienunternehmer Gröner spendete 800.000 Euro an die Berliner CDU“ sind Schlagzeilen, die zu denken geben. Bislang waren Großspenden ein Thema vorwiegend für die CDU (s. nur „Spendenaffäre“), jetzt kommen auch die Grünen in den Genuss solcher Zahlungen. Aber was bedeutet das für eine spätere Regierungsarbeit. Enden wir irgendwann so, wie die USA, deren Präsidenten ihre Spendenkönige zu Botschaftern machen (s. nur hier)?

Nebeneinkünfte: https://www.welt.de/politik/deutschland/article232419713/Neue-Untersuchung-Nebeneinkuenfte-von-Bundestagsabgeordneten-stark-gestiegen.html?cid=socialmedia.email.sharebutton%3cBR%3e%3cBR%3eCheck

Zwar dürfte die Mehrzahl der deutschen Bundestagsabgeordneten noch nicht so reich sein, wie ihre Pendants im US-Parlament (hier), aber die „merzsche Mittelschicht“ (hier) dürfte sich auch im Bundestag immer breiter machen. Ist damit das Parlament eigentlich noch „repräsentativ“ für die Gesamtbevölkerung?

Nichtwähler: https://www.focus.de/kultur/gesellschaft/gastbeitrag-von-gabor-steingart-optimierte-umfragezahlen-fuegen-der-demokratie-schaden-zu-aus-drei-gruenden_id_13430813.html

https://www.spiegel.de/wirtschaft/spd-vor-der-bundestagswahl-die-sozis-liegen-richtig-falsch-kolumne-a-875be570-0e1f-440d-92ff-c49766eb6056

Die größte Partei war zumindest im Juni noch die Partei der Nichtwähler. Und das nicht nur aus Faulheit, wie Herr Steingart fulminant herausarbeitet. Und auch Herrn Frickes (eigentlich nur auf die SPD zielende) Analyse: „Aus Umfragen und Studien kommt immer auch heraus, dass die Leute nicht nur sozial im Notfall aufgefangen werden, sondern auch wieder mehr Kontrolle über ihr eigenes Schicksal haben wollen.“ spricht Bände, woraus sich die Partei der Nichtwähler rekrutiert. Die Hochwasserkatastrophe und die Entwicklungen in Afghanistan könnten allerdings (hoffentlich) diese „Partei“ doch noch schrumpfen lassen.

Freie Wähler: https://www.n-tv.de/politik/politik_person_der_woche/Dieser-Mann-koennte-die-Wahl-voellig-veraendern-article22720236.html

Vielleicht auch nicht zu unterschätzen, in Bayern haben sie bei der letzten Landtagswahl immerhin 11,9% geholt (hier).

Umfragenhttps://www.zeit.de/politik/deutschland/2021-06/wahlumfragen-sachsen-anhalt-landtagswahl-wahlverhalten-waehler

Was wir von Umfragen zu halten haben, wissen wir doch spätestens seit der Wahl in Sachsen-Anhalt (wieder), so gesehen, sind wir den USA auch wieder sehr nahe (hier).

Fazit: Ja, „thematisch“ nähern wir uns bei Wahlen wohl US-Verhältnissen an. Wie allerdings Gabor Steingart in einem exzellenten Kommentar herausarbeitet (hier), fehlt uns Deutschen ein wichtiges Element des US- Wahlkampfs, nämlich die sog. „Primaries„, also die Vorwahlen, in denen die Parteien zunächst in internen Wahlkämpfen ihre Kandidaten bestimmen. Zwar ist auch dieses System mit seinem hohen Finanzierungsaufwand für die Kandidaten und der daraus folgenden Empfänglichkeit für Wahlkampfspenden nicht unproblematisch, aber sie dienen zumindest der Schärfung des Profils der Kandidaten. So haben wir in Deutschland eher eine „Loyalitäts-“ oder „Aussitzauslese“, sprich, wer am längsten durchhält hat gewonnen, denn eine Bestenauslese. Dazu kommt das schon oben bei den Artikeln zu Nichtwählern herausgearbeitete „Repräsentationsdefizit“ (erneut gut dazu: Herr Steingart, hier). Und gerade die Nichtwähler dürften – wie in den USA weiland 2016 – für den Kandidaten stimmen, von dem sie GLAUBEN, dass er SIE repräsentiert und nicht nur irgendeine utopische „Haltung“.

Meine Wette zu Anfang des Jahres war ja, dass Frau Baerbock Kanzlerin wird, wenn Frau Merkel nicht mehr antritt (hier). Dieses Szenario ist aktuell nicht mehr so wahrscheinlich, aber ausgeschlossen ist es auch nicht. Der Umgang mit den Folgen der Hochwasserkatastrophe und dem Scheitern des Westens in Afghanistan haben dabei zumindest ein gutes: Sie führen heraus aus dem schieren „Haltungswahlkampf“ und zwingen die Kandidaten, ihr „Krisengesicht“ zu zeigen. Ein gutes Training für das, was auf den „Sieger“ zukommt – denn Krisen, so viel ist sicher, werden sie oder ihn in seiner gesamten Amtszeit begleiten (s. nur zur Krise des Rentensystems und der wahltaktischen Einordnung Ottmar Issing, hier). Hoffen wir, dass sie/er dann besser aussieht, als der strahlende Sieger der US-Wahlen – der in Kabul gerade seinen ganz persönlichen Saigon oder auch Iran-Moment erlebt – und dabei nicht gut aussieht (hier). Gleichwohl sollten wir auch diesbezüglich nicht mehr mit dem Finger auf die USA zeigen…

Spruch des Tages: „Es wird niemals so viel gelogen wie vor der Wahl, während des Krieges und nach der Jagd” – Otto von Bismarck

Keep calm and carry on!

-tz 

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